Komplexes regionales Schmerzsyndrom: Ist die Blutentnahme schuld? (springermedizin.de)

30.08.2024 | Komplexes regionales Schmerzsyndrom | FB_Übersicht

Serie „Der Hausarzt/die Hausärztin vor Gericht“, Folge 9

Komplexes regionales Schmerzsyndrom: Ist die Blutentnahme schuld?

verfasst von: Prof. Dr. med. Markus Bleckwenn, Prof. Dr. med. Klaus Weckbecker

Erschienen in: MMW – Fortschritte der Medizin | Ausgabe 14/2024

Nach einer peripheren Venenpunktion entwickelt eine Patientin Schmerzen und funktionelle Einschränkungen am linken Arm. Verschiedene Fachärzte äußern den Verdacht auf ein komplexes regionales Schmerzsyndrom. War das Vorgehen in der Hausarztpraxis fehlerbehaftet?

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Eine etwa 50-jährige Patientin suchte ihren Hausarzt wegen Schmerzen und Parästhesien an beiden Handinnenseiten auf, die sich wie ein Muskelkater oder eine Entzündung anfühlten. Die Schmerzen begannen plötzlich ohne auslösendes Ereignis wie ein Trauma oder eine Überlastung. Die Hände waren äußerlich unauffällig ohne Rötung oder Schwellung, und die Pulse waren beidseits tastbar. Bewegungen waren zwar uneingeschränkt möglich, jedoch in den Handgelenken etwas schmerzhaft. Es konnten keine neurologischen Defizite festgestellt werden.

Um die Symptomatik weiter abzuklären, ordnete der Hausarzt eine laborchemische Untersuchung des Blutes an. Dabei sollten das Blutbild, Elektrolyte, Leberwerte, Nierenfunktion, Eisen, Harnsäure und der Blutglukosestoffwechsel betrachtet werden. Bei der Blutentnahme in der linken Ellenbeuge verspürte die Patientin unmittelbar starke Schmerzen, die sich chronifizierten. Zudem konnte die Patientin den linken Arm nur noch eingeschränkt belasten. Trotz einer umfangreichen Diagnostik konnte keine Ursache für die chronischen Schmerzen gefunden werden. Die ursprünglichen Beschwerden an den Handinnenseiten waren wiederum nach wenigen Wochen verschwunden.

Schwellung und Verfärbung der rechten Hand bei einem anderen Fall eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms:

Hände
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Fragestellung des Gerichts

Wurde die Therapie durch die Beklagtenseite nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt oder liegen Behandlungsfehler vor?

Beschwerden umfassend abgeklärt

Unmittelbar nach der schmerzhaften Blutentnahme wurde die Patientin erneut vom Arzt untersucht. Sie gab lokale Schmerzen in der linken Ellenbeuge an ohne brennenden oder elektrisch einschießenden Charakter. Zudem strahlten die Schmerzen nicht in die Finger aus.

Die Venen der Ellenbeuge wurden jeweils 13 und 16 Tage nach der Venenpunktion duplexsonografisch untersucht. Dabei konnte eine Venenverletzung als Ursache der Beschwerden ausgeschlossen werden. In einer Röntgenuntersuchung war kein Hinweis für eine knöcherne Verletzung oder einen verbliebenen metallischen Fremdkörper zu sehen. In der Magnetresonanztomografie des linken Ellenbogens inkl. Darstellung des Gefäßsystems gab es außer einem diskreten subkutanen Hämatom keine pathologischen Befunde. Mittels Neurografie konnte zudem eine Läsion des Nervus medianus ausgeschlossen werden.

Die Laborwerte zur Abklärung der Schmerzen in beiden Händen waren außer einem erhöhten Kaliumwert von 7,4 mmol/l unauffällig. Dieser könnte durch eine lange Stauung bei der Blutentnahme bedingt gewesen sein.

Multimodale Therapie der Armschmerzen

Bei einer diskreten Rötung legte der Hausarzt zunächst im Einstichbereich einen Verband mit einer antiseptischen Salbe (Rivanol) an. Dann verordnete er eine Ellenbogen-Kompressionsbandage mit Pelotte zur Entlastung. Zudem erhielt die Patientin Ibuprofen 600 mg inkl. Magenschutz und Novaminsulfon-Tropfen. Während der Behandlung war die Patientin nicht arbeitsfähig.

Bei weiterhin persistierenden Schmerzen empfahl der Hausarzt, den Arm ruhig zu stellen. Außerdem wurde der Arm gewickelt und Heparin aufgetragen. Die Schmerzmedikation wurde auf Diclofenac 75 mg und Novaminsulfon geändert sowie durch Pregabalin 75 mg erweitert. Darunter gab die Patientin erstmals gebesserte Schmerzen an. Zudem wurde auf Anraten der Fachärzte der Arm nicht mehr ruhiggestellt, sondern physio- und ergotherapeutisch beübt. Darüber hinaus wurde ein sich entwickelndes Lymphödem mit einer manuellen Lymphdrainage behandelt.

Weitere fachärztliche Betreuung

Etwa einen Monat nach der schmerzhaften Blutentnahme gab die Patientin stechende und brennende Schmerzen in der linken Ellenbeuge sowie ein Kribbelgefühl in der linken Hand im Bereich des Mittel- und Ringfingers an. Die Schweißsekretion der linken Hand war verstärkt und die Haut war teilweise dunkel verfärbt. Durch die Schmerzen war der Nachtschlaf beeinträchtigt. Aufgrund der Beschwerden äußerte ein Dermatologe den Verdacht auf ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS;). Daraufhin überwies der Hausarzt die Patientin zu einem Schmerztherapeuten, der ebenfalls die Verdachtsdiagnose eines CRPS stellte.

Nach dem ersten Termin beim Schmerztherapeuten beendete die Patientin die hausärztliche Betreuung. In der weiteren Diagnostik und Therapie konnte die Diagnose eines CRPS nach den Budapest-Kriterien nicht eindeutig gestellt werden, und die Ursache der Beschwerden blieb letztendlich unklar.

Infobox 1 Komplexes regionales Schmerzsyndrom

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom („complex regional pain syndrome“, CRPS) ist eine seltene chronische neuropathische Schmerzerkrankung []. Früher wurde das CRPS nach dem Erstbeschreiber, dem deutschen Chirurgen Paul Sudeck, als Morbus Sudeck bezeichnet. Das CRPS kann auf Weichteile und Knochen beschränkt (CRPS 1) oder auch mit einer Nervenverletzung verbunden sein (CRPS 2). Auslöser sind in der Regel Traumata, z. B. Frakturen oder chirurgische Eingriffe. Die Diagnose wird klinisch anhand der Budapest-Kriterien gestellt [2]. Dazu gehören anhaltende Schmerzen, die durch das Anfangstrauma nicht zu erklären sind, Hyperalgesie und Allodynie, aber auch Veränderungen der Hauttemperatur und der Hautfarbe.

Kam es bei der Blutabnahme zu einem Behandlungsfehler?

Eine Delegation der Blutentnahme an eine Medizinische Fachangestellte war rechtens, allerdings trug der Hausarzt weiterhin die Verantwortung für die Tätigkeit. Die Blutentnahme wurde wie üblich in der Ellenbeuge durchgeführt. Dort verläuft die Kubitalvene. Eine Venenpunktion kann auch schmerzhaft sein; meistens geht der Schmerz jedoch rasch zurück, wenn die Lage der Nadel geändert wird. Sollten die Schmerzen zunehmend stärker werden oder nicht aufhören, kann durchaus ein Abbruch der Blutentnahme erwogen werden.

In dem beschriebenen Fall wurde die Blutentnahme nicht abgebrochen. Es wurde aber auch nicht dokumentiert, dass die Patientin um eine sofortige Beendigung der Blutentnahme gebeten hatte. Zudem schwoll die Einstichstelle nicht an, wie es bei einem Durchstechen der Vene zu beobachten ist. Auch ein einschießender Schmerz wie bei der Irritation eines Nervens wurde nicht von der Patientin beschrieben. Insgesamt kann also kein Behandlungsfehler bei der Durchführung der Blutentnahme festgestellt werden.

War die Behandlung der Patientin fehlerhaft?

Der Hausarzt hatte die Beschwerden der Patientin nach der schmerzhaften Blutentnahme umfangreich abgeklärt und die Schmerzen multimodal behandelt. Bei allen Konsultationen wurden Anamnese, körperliche Untersuchung und die Therapieempfehlungen in der Patientenakte dokumentiert. Das gesamte hausärztliche Vorgehen entsprach demnach dem Facharztstandard, und es gab keinerlei Hinweis für einen Behandlungsfehler.

Zudem wurde in der Literatur bisher kein CRPS nach schmerzhafter Venenpunktion beschrieben. Daher ist ein CRPS keine Erkrankung, die eine Hausärztin/ein Hausarzt bei persistierende Schmerzen nach einer Blutentnahme in Betracht ziehen muss. In seltenen Fällen kann sich ein CRPS auch ohne eine erkennbare Ursache entwickeln.

Autoren:

Prof. Dr. med. Markus Bleckwenn

Institut für Allgemeinmedizin Medizinische Fakultät der Universität Leipzig Philipp-Rosenthal-Straße 55, Haus W D-04103 Leipzig Markus.Bleckwenn@ medizin.uni-leipzig.de

Prof. Dr. med. Klaus Weckbecker

Institut für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung (IAMAG), Lehrstuhl für Allgemeinmedizin I und Interprofessionelle Versorgung Universität Witten/Herdecke

Fazit für die Praxis

Zeitliche Zusammenhänge können zu Behandlungsfehlerklagen führen, auch wenn ein kausaler Zusammenhang nicht belegt ist. Im begutachteten Fall waren deshalb folgende Punkte wichtig:

  1. Der Hausarzt führte unmittelbar nach dem auslösenden Ereignis eine körperliche Untersuchung durch und dokumentierte diese.
  2. Im Verlauf veranlasste und dokumentierte der Hausarzt eine umfangreiche Diagnostik sowie eine unmittelbare Therapie.
  3. Die Schmerzen wurden multimodal behandelt und konnten insbesondere durch Pregabalin reduziert werden.

15.10.2024

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Referenz:

https://www.springermedizin.de/komplexes-regionales-schmerzsyndrom/rheumatologische-erkrankungen-in-der-hausarztpraxis/komplexes-regionales-schmerzsyndrom-ist-die-blutentnahme-schuld/27628386?utm_source=Update&utm_medium=email&utm_campaign=SM_NL_UPDATE_SCHMERZ&utm_content=Muskelrelaxanzien%20gegen%20Schmerzen?%20Es%20kommt%20darauf%20an!&utm_term=2024-09-26&fulltextView=true&tid=TIDP3291082X711C84C91F7A4E27AFE66B02EE3E6408YI4&nl_name=SM_NL_UPDATE_SCHMERZ&nl_date=2024-09-26

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