Ich habe gelernt, wie Deep-Frequency-Breathing funktioniert (zeit.de)

Chronische Schmerzen

Ich habe gelernt, wie Deep-Frequency-Breathing funktioniert

Sie sind jung und leiden an chronischen Schmerzen, schaffen teils nur 500 Schritte, können das Haus kaum verlassen. Hier erzählen sie, was ihnen gegen den Schmerz hilft.

Protokoll: Bastian Mühling

29. März 2024, 20:20 Uhr

Bouldern
© Cavan Images/ plainpicture

Schon mal Yoga versucht oder Fasten? Wer mit chronischen Schmerzen lebt, für den sind solche Besserwisserratschläge oft nervig. Vier junge Menschen mit chronischen Schmerzen erzählen, was ihnen wirklich hilft. Zum Beispiel: Rollstuhlbasketball.

„Als wäre mein Becken zugeklebt“

Maurice, 21, wohnt in München. Er hat seit 2020 einen Dauerschmerz in der Beckenregion, das sogenannte Chronic Pelvic Pain Syndrom (CPPS), mit Episoden von Brustwirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulen-Schmerzen. Aus Angst vor Stigmatisierung möchte er, dass hier nur sein Vorname steht.

„Es gibt nicht die eine Methode, die mich immer rettet. Aber was schon gut funktioniert, ist das Dampfsitzbad. Ein Tipp meiner Schmerztherapeutin. Das mache ich vor allem, wenn ich ganz schlimme Schmerzen habe. Ich nehme einen Eimer heißes Wasser, so 90 bis 100 Grad. Den kleinen Eimer stelle ich in die Kloschüssel, der Dampf steigt dann wie in einer Sauna nach oben auf und wärmt mein Becken.

In der Physiotherapie habe ich gelernt, wie das sogenannte Deep-Frequency-Breathing funktioniert. Das bedeutet, entspannt mit etwa drei bis sieben Atemzügen pro Minute zu atmen. So versuche ich, die Muskulatur des Beckenbodens zu lockern und vom Zwerchfell nach unten zu schieben. Mit der Bauchatmung bringe ich ein bisschen Bewegung und Brustweite hinein. Das Ganze mache ich so eine halbe Stunde, die Wärme wirkt erst nach 15 Minuten. Recht viel länger kann ich es nicht machen, weil sonst der Beckenboden weh tut.

„Wenn ich auf dem Dampfsitzbad war, fühlt sich das freier an.“

Maurice

Man muss sich meine Beckenschmerzen so vorstellen, dass ich ein permanentes Gefühl der Enge habe. Als wäre mein Becken zugeklebt. Wenn ich auf dem Dampfsitzbad war, fühlt sich das freier an. Ein wenig so wie der erste frische Luftzug, nachdem man lange in einem stickigen Raum gewesen ist, ohne richtig durchatmen zu können. Nur, dass das Gefühl statt im Brust- im Beckenbereich ist.

Wenn ich regelmäßig starke Schmerzen habe, mache ich fast jeden zweiten Tag ein Dampfsitzbad. Stehe ich zum Beispiel auf und fühle mich auf der Schmerzskala von null (kein Schmerz) bis zehn (schlimmster Schmerz, den man sich vorstellen kann) bei einer sieben, setze ich mich auf das Dampfbad und bin danach mit einer vier unterwegs. So kann ich den Tag besser aushalten.“  

„Viele Patient:innen mit meiner Diagnose bewegen sich gar nicht mehr“

Dagmar van Hinte, 27, kommt aus den Niederlanden, wohnt aber mittlerweile in Bayreuth. Dort leitet sie ein Fitnessstudio. Seit 2012 hat sie Schmerzen, 2016 wurde bei ihr das Complex Regional Pain Syndrom (CRPS) diagnostiziert: ein dauerhafter Schmerz im linken Fuß und Unterbein, vor allem, wenn sie auftritt.



„Ich wollte professionelle Leichtathletin werden, bevor ich mich verletzt habe. 2012 war das, beim Hürdensprung, da hatte ich auf einmal starke Schmerzen in der linken Ferse. Die Ärzte haben mir eine Kortisonspritze gegeben und meinten, ich solle mich zwei Wochen ausruhen. Im Nachhinein wahrscheinlich ein Fehler. Danach sind die Schmerzen schlimmer geworden, ich konnte nicht mehr laufen, musste kurzzeitig einen Rollstuhl benutzen. Heute kann ich, auch dank einer Fußorthese, wieder einigermaßen laufen. Aber nicht mehr rennen und springen.

Viele Patient:innen mit meiner Diagnose bewegen sich gar nicht mehr. Aber mein Kopf wollte etwas anderes als mein Körper: sofort wieder Sport machen. Das war schon immer meine Lösung. Seit meiner Kindheit träume ich davon, bei Olympia teilzunehmen. Seit meiner Verletzung von den paralympischen Spielen.

Zunächst habe ich Schwimmen probiert, das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Aber da bin ich auf internationalem Niveau nicht weitergekommen. Mein Syndrom hat nicht ausgereicht, um bei den paralympischen Spielen mitmachen zu dürfen. Deshalb habe ich nach einer neuen Sportart gesucht und dabei Rollstuhlbasketball entdeckt. Hier dürfen Spieler:innen mit und ohne Behinderung zusammenspielen.

Sobald ich mich in den Stuhl setze, nimmt das den Druck vom Stehen weg. Gerade nach einem langen Tag auf der Arbeit im Fitnessstudio, wo ich viel hin- und herlaufe, merke ich das. Wenn ich mit meinem Rollstuhl hart gegen den eines Gegenspielers knalle, tut das natürlich schon richtig weh. Für einen kurzen Moment aber nur. Dann geht das Spiel weiter, keiner wartet auf mich. Ich bin ständig damit beschäftigt, wo ich als Nächstes hin rolle, was ich als Nächstes mache. Da passiert so viel, dass ich kaum über meine Schmerzen nachdenken kann. Nach dem Spiel werden die Schmerzen wieder stärker.   

Rollstuhlbasketball ist ein sehr internationaler Sport. Mit der niederländischen Nationalmannschaft bin ich Welt- und Europameister geworden. Das nationale Niveau in den Niederlanden war mir aber zu niedrig, deshalb bin ich nach Deutschland gezogen. Dort spiele ich beim RSV Bayreuth in der zweiten Bundesliga.“

„Manchmal schicken wir uns den ganzen Tag Memes über chronischen Schmerzen“

Jakob Engewald, 24, wohnt in Stuttgart. Bis vor einem Jahr hat er als Veranstaltungskaufmann und DJ gearbeitet. Inzwischen ist er wegen Post-Covid arbeitsunfähig. Der 24-Jährige hat ME/CFS, und chronische Kopf-, Nerven- und Muskelschmerzen.

„Wenn ich morgens zu schnell aufstehe, geht es direkt bergab. Ich muss meinem Körper Zeit geben, erst mal hochzufahren. In Ruhe einen Kaffee zu trinken. Sport und Bewegung sind bei mir zurzeit kaum möglich. Ich mache 500 Schritte am Tag. Es fällt mir schwer, das Haus zu verlassen. Zum einen ist da dieser dumpfe, dauerhafte Hintergrundschmerz in meinem Kopf und zum anderen ein Schmerz, der immer wieder durch die Nerven an den Armen und Beinen sticht.

Was mir hilft, ist ein humorvoller Umgang mit dem Thema. Auf Social Media habe ich viele Menschen kennengelernt, denen es ähnlich geht wie mir. Manchmal schicken wir uns den ganzen Tag Memes über chronischen Schmerzen. Das tut einfach gut, so richtig verstanden zu werden.

Vor Post-Covid war ich viel unterwegs. Ich habe als DJ aufgelegt und wollte unbedingt lernen, eigene Musik zu produzieren. Jetzt versuche ich das unter Kopfschmerzen, zum Beispiel Klavier zu spielen. Davon bekomme ich aber schnell Nervenschmerzen im Finger. Kognitiv neue Sachen zu lernen, geht nur langsam. Ich kann mich zehn Minuten lang damit beschäftigen, dann war es das für den Tag.

In den vergangenen Monaten habe ich herausgefunden, dass entspannende Musik einen sehr guten Effekt auf meine Schmerzen hat. Vor allem, wenn ich nachts schlecht geschlafen habe, hilft mir die Musik abzuschalten und zu entspannen. Ich lege mich in mein Bett, mache die Lichter aus oder setze meine Schlafmaske auf und höre bewusst Musik. Am liebsten akustische Songs oder Klavierlieder, so in Richtung Einschlafmusik. Manchmal auch Deep House oder deutschen Pop-Rap wie Schmyt oder 01099.

Als DJ habe ich elektronische Musik aufgelegt. Am Anfang konnte ich die gar nicht mehr hören, weil es einfach zu viele Reize sind. Heute nur noch, wenn ich verhältnismäßig fit bin. Die Musik weckt schöne Erinnerungen, aber sie lindert meine Schmerzen nicht.“

„Bouldern ist die perfekte Mischung“

Julia, 27, wohnt in München. Sie hat vor Kurzem einen neuen Job angefangen und möchte deshalb nicht, dass hier ihr echter Name steht. Sie hat Fibromyalgie. Zu der Krankheit gehören vor allem Faser-Muskel-Schmerzen.

„Seit sieben Jahren habe ich dauerhaft Schmerzen, seit zwei die offizielle Diagnose: Fibromyalgie. Vor allem an der Halswirbelsäule, der Schulter, im Rücken, im Rippenbogen und am Kiefer. Es fühlt sich an wie Gliederschmerzen, dumpf und drückend, nur, dass die nicht mehr weggehen.

Was die Schmerzen besser macht, ist Bewegung: spazieren gehen, joggen, dehnen. Bei der Arbeit ist das schwierig. Dehnen ist nicht so gesellschaftsfähig. Und ich möchte meinem Arbeitgeber nicht von meiner Krankheit erzählen, weil ich nicht aus der Norm fallen und daraus keine Nachteile ziehen möchte. Im Studium war das einfacher, da konnte ich mich in den Pausen dehnen. Auch wenn ich mich dabei wie eine Omi gefühlt habe.

„Es gibt nichts Besseres als diesen Erfolgsmoment.“

Julia

Bouldern ist der Sport, der meine Schmerzen am besten lindert. Es ist die perfekte Mischung aus Ausdauer- und Kraftsport. Vor meiner Erkrankung habe ich viel Krafttraining gemacht, dafür hatte ich durch das Studium nicht mehr so viel Zeit. Während der Pandemie war es sowieso nicht möglich. Nach Corona wollte ich wieder mehr unternehmen. Freund:innen von mir waren schon vorher viel bouldern und haben mich mitgenommen. Es hat mir sofort gutgetan. Meine Muskeln haben sich weniger steif angefühlt.

Während des Sports und meist auch für ein paar Stunden danach habe ich weniger Schmerzen. Nach dem Bouldern lege ich oft eine Dehn-Session ein. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass sich das regelmäßige Bouldern auch langfristig positiv auf meine Schmerzen auswirkt.

Heute gehe ich mehrmals die Woche in die Halle. Es gibt nichts Besseres als diesen Erfolgsmoment, wenn ich eine Route geschafft habe. Und das dann mit Freund:innen teilen kann oder auch mit Leuten, die ich eigentlich gar nicht kenne. Das fühlt sich wie eine Gemeinschaft an.“  

30.03.2024

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Referenz:

https://www.zeit.de/zett/2024-03/chronische-schmerzen-krankheit-therapie-behandlung-alltag

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