Pregabalin hat in Großbritannien bereits zu Tausenden von Todesfällen geführt – trotzdem steigen die Verschreibungszahlen. Droht uns in Deutschland das gleiche Problem?
Von Eva Bahn, Pharmazeutisch-technische/r Assistent/in (PTA)
Ein Medikament, das als Hoffnungsträger gegen Epilepsie und Angststörungen eingeführt wurde, steht aktuell im Mittelpunkt einer alarmierenden Entwicklung. Tausende von Todesfällen in Großbritannien werden mit seiner Einnahme in Verbindung gebracht, eine Zahl, die in den letzten Jahren rapide angestiegen ist – und der Wirkstoff gehört auch in Deutschland zu den meistverschriebenen: Pregabalin.
Was macht Pregabalin eigentlich?
Pregabalin hat in Großbritannien zu Tausenden von Todesfällen geführt. Diese erschütternde Erkenntnis geht aus einer Untersuchung der Sunday Times hervor, die zeigt, dass allein in den letzten fünf Jahren etwa 3.400 Personen an den Folgen dieses Medikaments verstorben sind. Vor zwölf Jahren lag diese Zahl noch bei neun Todesfällen pro Jahr, was den alarmierenden Anstieg verdeutlicht. Auch in Deutschland zählt Pregabalin zu den am häufigsten verordneten Medikamenten. Es handelt sich um ein GABA-Analogon, gehört zur Gruppe der Antikonvulsiva und wird zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen, als Zusatztherapie bei partiellen epileptischen Anfällen, generalisierten Angststörungen, sozialer Phobie und Pruritus eingesetzt. Obwohl Pregabalin strukturelle Ähnlichkeiten mit GABA aufweist, entfaltet es seine Wirkung nicht über den GABA-Rezeptor. Stattdessen bindet es im Zentralnervensystem an spannungsabhängige Calciumkanäle vom P/Q-Typ, was zu einer Verringerung des Calciumeinstroms und einer Reduktion der Ausschüttung von Neurotransmittern wie Glutaminsäure und Substanz P führt.
Pregabalin wird unverändert über die Niere ausgeschieden. Die übliche Dosierung liegt zwischen 150 und 300 mg pro Tag, wobei die Tageshöchstdosis bei 600 mg liegt. Bei der Anwendung von Pregabalin können zahlreiche Nebenwirkungen auftreten – darunter Allergien, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, obstipative Beschwerden, Neutropenie und Atemwegsinfektionen. Besondere Vorsicht ist geboten bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion, in der Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei Kindern.
Vorsicht vor Missbrauch
Es besteht ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko bei Patienten mit einer bereits bestehenden Opioidabhängigkeit, da Pregabalin entspannende und euphorisierende Effekte haben kann und die Opioid-Entzugssymptome reduziert. Daher sollte die Behandlung mit Pregabalin bei drogenabhängigen Patienten vermieden werden. Auch der Missbrauch von Pregabalin als Droge ist bekannt, wobei die eingenommenen Mengen oft weit über der therapeutischen Dosierung liegen.
Nicolas Zeller und sein Team vom Klinikum rechts der Isar München hatten bereits im Jahr 2017 Erkenntnisse zum Missbrauch von Pregabalin veröffentlicht (DocCheck berichtete). Durch die Untersuchung von Datenbanken konnten sie einen deutlichen Anstieg von Pregabalin-Intoxikationen zwischen 2008 und 2015 feststellen. Im Jahr 2015 wurden 105 Fälle registriert, im Gegensatz zu maximal 5 Fällen pro Jahr zwischen 2008 und 2011.
Die typischen Konsumenten von Pregabalin waren meist männlich, um die 30 Jahre alt und sie hatten in ihrer Vorgeschichte nicht häufiger psychische Erkrankungen als Personen mit anderen Abhängigkeiten. Die Ergebnisse zeigen, dass Pregabalin-Missbrauch zwischen 2008 und 2015 kontinuierlich zugenommen hat und in einigen Zeiträumen sogar häufiger missbraucht wurde als andere Substanzen – wie etwa Amphetamine oder Kokain. Zeller betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung, Ärzte über das Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin zu informieren, insbesondere bei Neuverschreibungen und während einer laufenden Opioid-Substitution.
Personen mit Suchtproblemen verlieren oft die Kontrolle über die Einnahme und erhöhen eigenständig die Dosis oder kombinieren es mit anderen Betäubungsmitteln, was zu schwerwiegenden bis hin zu tödlichen Folgen führen kann. Laut einer schwedischen Studie von 2019 besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Einnahme von Pregabalin und einem erhöhten Risiko für Suizidalität und unbeabsichtigten Überdosierungen. Der Entzug von Pregabalin ist äußerst belastend und kann mit dem Entzug von Morphium verglichen werden. Symptome wie gesteigerte Schmerzempfindlichkeit, Magen-Darm-Probleme, Angst, Panik, innere Unruhe und Stimmungsschwankungen sind keine Seltenheit.
Wie ein Auto ohne Bremsen
Trotz dieser alarmierenden Erkenntnisse wurden in Großbritannien allein im Jahr 2022 über 8 Millionen Rezepte für Pregabalin ausgestellt. Obwohl das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) bereits mehrfach die Ärzteschaft dazu aufforderte, die Verschreibung des Medikaments kritisch zu prüfen und zu verbessern, stiegen die Verschreibungen weiter an. Ein Arzt kommentiert gegenüber der Times: „Pregabalin zu verschreiben, ist, wie ein Auto ohne Bremsen zu verkaufen.“
Auch in Deutschland ist Pregabalin unter den am häufigsten verschriebenen Wirkstoffen. Laut der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wurden allein im Jahr 2018 insgesamt 3,9 Millionen Rezepte für Pregabalin zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgestellt.
Eine Studie der Uni Marburg aus dem Jahr 2019 befasste sich mit dem Verschreibungsverhalten der Ärzte in Bezug auf chronische Schmerzen. Auch hier kam Pregabalin – wie auch der Wirkstoff Gabapentin – in der Vergangenheit immer häufiger zum Einsatz, obwohl die Wirksamkeit bei dieser Anwendung nicht völlig unumstritten ist. Dies ergab sich aus einer Analyse von etwa 4 Millionen anonymisierten Verschreibungsdaten der Krankenversicherungen. Ursprünglich für die Behandlung von Epilepsie entwickelt, werden Pregabalin und Gabapentin vermehrt auch gegen neuropathische Schmerzen eingesetzt, die auf Nervenleiden wie Diabetes oder Herpes basieren. Trotz der eher schwachen therapeutischen Wirkungen und des begrenzten Anwendungsbereichs stiegen die Verschreibungszahlen stetig an.
Der gefährliche Trend geht weiter
Die erhobenen Daten zeigten, dass die Verschreibungen von Pregabalin und Gabapentin von Jahr zu Jahr zunahmen, jedoch nur etwa 25 Prozent der Patienten mit einer typischen neuropathischen Schmerzstörung diagnostiziert wurden. Drei Viertel der Patienten litten hingegen an chronischen Schmerzen ohne neuropathische Komponente, und in 61 Prozent der Fälle wurde die Behandlung abgebrochen. Die Studie deutet darauf hin, dass die Medikamente häufig bei allgemeinen chronischen Schmerzen verschrieben werden, unabhängig davon, ob eine neuropathische Diagnose vorliegt. Die hohe Abbruchrate legt nahe, dass die Behandlung keinen therapeutischen Nutzen bringt oder unerwünschte Nebenwirkungen auftraten.
Auch in der Apotheke ist dieser Trend zu beobachten. Angesichts der aktuellen Warnungen aus Großbritannien sollten diese Informationen doch vielleicht den ein oder anderen verschreibenden Arzt zum Nachdenken bringen. Die verunsicherten Patienten, die uns vermutlich in den kommenden Wochen aufsuchen, werden wir – sobald sie die Nachrichten über das Medikament, das sie selbst einnehmen, wahrnehmen – jedenfalls für eine Erklärung zu ihrem Arzt schicken. Bislang ist nicht bekannt, welche Patientengruppe von den Todesfällen am häufigsten betroffen war.
14.03.2024
Referenz:
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